Trauma-Informiert-Leben

Was ist eigentlich das Window of Tolerance?

Window of Tolerance Motiv Fensterbild

Immer wieder taucht der Begriff „Window of Tolerance“ oder zu deutsch „Toleranzfenster“ auf. Ein bisschen kannst Du Dir aus dem Kontext herleiten, was es bedeuten könnte. Wie der Name schon sagt – scheint es um Toleranz zu gehen. Doch Toleranz in welcher Hinsicht? Was genau hat es damit auf sich? Und wie können wir es fördern?

Die Wurzeln der Begrifflichkeit „Window of Tolerance“

Dr. Dan Siegel entwickelte bereits 1999 dieses Denkmodell in dem es um die Schwingungsfähigkeit und damit die Regulationsfähigkeit in unserem Nervensystem geht.

Dr. Daniel Siegel ist 1957 geboren und klinischer Professor für Psychiatrie an der UCLA School of Medicine / Los Angeles (Kalifornien) sowie Geschäftsführer des Mindsight Institute.

Mit dem Toleranzfenster spricht er von dem Bereich, in dem wir als Menschen am besten auf jede Form von Reizen und Informationen reagieren und damit physiologisch funktionieren. Hier lernen wir Neues, hier können wir angenehm, erquickend und auch konstruktiv kommunizieren – kurzum in diesem Bereich fällt das Leben leicht. Doch schauen wir uns das ein wenig genauer an.

Das Window of Tolerance – Das Toleranzfenster

Diesem Modell zu Grunde liegt die Schwingungsfähigkeit unseres Organismus und damit vor allem unseres autonomen Nervensystems. Doch zwischen welchen Elementen schwingen wir eigentlich?

Es gibt hocherregte Zustände, diese sind durch den sogenannten Sympathikus dominiert oder vielmehr gesteuert. Dieser ist für die Energiebereitstellung und damit für die Kampf- und Fluchtreaktion in unserem Körper zuständig. Der Zustand ist gekennzeichnet durch hohes Tempo, stärkste Anspannung und es finden sich oft Gefühle wie Angst, Wut, Ärger oder Panik.

Genauso gibt es aber auch eher untererregte Zustände, welche durch das parasympathische System gestaltet werden. Der Parasympathikus ist der Gegenspieler vom Sympathikus. Eigentlich ist er für Regeneration und Ruhe im System zuständig, doch manchmal zeigt sich dieses System in Form von totaler Ohnmacht, Hilflosigkeit, Depression oder Erschöpfung.

Am allerbesten ist es, wenn wir den gesunden Mittelweg zwischen diesen beiden Extremen finden. Also weder zu weit und ständig oben oder unten, sondern elegant in der Mitte schwingen oder eben mit Leichtigkeit durch´s Leben fließen. Das ist jedoch und vor allem im Fall von Trauma und Traumafolgestörungen und damit der gefühlten ständigen oder häufigen Bedrohung gar nicht so leicht. Dann braucht es gezielte Hinwendung, damit der Körper in seinen Reaktionen wieder in die Normalität gelangen kann.

Am einfachsten lässt sich dieses Toleranzfenster anhand einer Grafik erklären. Die wichtigsten Elemente habe ich in dieser ersten Grafik dargestellt:

Window of Tolerance

Doch auch wenn es zunächst auf der Grafik sehr statisch aussieht, das Window of Tolerance ist ein dynamisches Modell. In jeder Sekunde bewertet unser Unterbewusstes die Situationen rund um uns herum. Manchmal wird das Fenster also eher sehr weit und groß sein, was sich durch eine eher entspanntere Grundhaltung auszeichnet. An anderen Tagen kann das Window of Tolerance sehr eng werden, dann steigt die Stressanfälligkeit.

Im normalen Verlauf (grün markiert), wenn wir uns im Bereich des Toleranzfensters bewegen, schwingen wir mal hoch, mal runter. Mal ist das Leben ein wenig aufregend, dann geht es hoch. Genauso gibt es Ereignisse, die ziehen uns ein wenig nach unten. Aber wir schwingen innerhalb des Toleranzfensters.

Summieren sich Reize oder geschieht uns ein heftiger oder bedrohlicher Moment schlägt die Kurve aus dem Toleranzfenster hinaus. Entweder nach oben in die hohe Erregung (rot markiert) oder nach unten in die Phase der Untererregung (grau markiert). Solange genug Zeit bleibt und die Umstände rund um uns herum wieder ruhig und sicher sind, reguliert sich das Nervensystem und damit der ganze Organismus immer wieder in den grünen Bereich des Toleranzfensters hinein.

Summieren sich jedoch die Reize oder das Tempo in dem sie auf uns einwirken oder geschieht uns was Überforderndes kann es passieren, dass wir zeitweilig also Stunden, Tage und manchmal sogar Jahre im Bereich der Übererregung (rot) oder im Bereich der Untererregung (grau) quasi „hängenbleiben“.

Dann sprechen wir von einem Zustand von ständig: „AN“ oder dem Zustand von ständig: „AUS“

Schau Dir dazu am besten mal die zweite Grafik an:

Window of Tolerance

Einige Symptome der Übererregung:

  • hohe körperliche und muskuläre Anspannung
  • hohes Tempo
  • hohes Stresslevel und viel Hektik oder Chaos im Alltag
  • Wut, Ärger, Zorn
  • Angst und Panik, Erschrecken
  • Schmerzen

Einige Symptome der Untererregung:

  • Müdigkeit / Erschöpfung
  • Depression
  • Gefühlsleere
  • Abspaltung
  • sozialer Rückzug
  • Inaktivität

Wozu dient das Model vom Toleranzfenster?

Ganz klar, es hilft jeder Person zunächst, sich selbst besser zu verstehen und hier ganz speziell, wo das eigene Nervensystem sich befindet. Also eher in der hohen in der normalen oder in der Untererregung.

Darüberhinaus hilft es auch, andere Personen in ihren Reaktionen zu erkennen und damit einzuordnen. Sofern gewünscht – kann man diese Personen dann viel gezielter unterstützen. Beispiele aus dem Alltag sind hier therapeutische Settings oder auch der Umgang mit Kindern aber auch der ganz übliche Alltag bietet enorm viel Fläche um dieses Modell zu erkunden.

Ein ganz wichtiger Aspekt ergibt sich für den Bereich der Traumaaufarbeitung. Nur wenn wir uns im grünen Bereich befinden, ist das Gehirn verhandlungsbereit. Nur dann lassen sich unverarbeitete Sachen tatsächlich verarbeiten und nur dann kann echtes Neues und nicht einfach nur Konstruiertes entstehen.

Befinden wir uns außerhalb des Toleranzfensters kann es sein, dass der Organismus in der Therapie weiterhin mit seinen Überlebensstrategien reagiert. Echte Lösungen sind das nicht – wohl eher Notlösungen. Genau das erzeugt dann häufig das Gefühl, die Therapie hilft nicht. Ziel jeder Therapie sollte also zunächst ein möglichst weites aber vor allem erfahrbares Toleranzfenster sein.

Wie kann ich mein „Window of Tolerance“ ausdehnen?

  1. Ganz grundsätzlich durch ein möglichst naturnahes Leben. Dazu gehört ein geregelter Tag-Nacht-Rhythmus, ausreichend Schlaf sowie möglichst naturbelassene Nahrungsmittel.
  2. Durch das Erkennen und vermeiden derer Faktoren, die Dich aus dem Toleranzbereich herausbefördern. (Trigger)
  3. Durch das Vermeiden von Suchtmitteln oder stark zuckerhaltigen Nahrungsmitteln
  4. Durch Achtsamkeitspraxis. Je mehr Dir selbst bewusst wird, wie schnell und auf was Du reagierst, desto eher lassen sich Gegenmaßnahmen ergreifen. Je breiter das Toleranzfenster ist, desto gelassener kannst Du auf mögliche Eventualitäten reagieren und auch schiwerige Situationen unkompliziert meistern.
  5. Erde Dich. Spüre Dich im Hier & Jetzt – stelle Deine Füße stabil auf den Boden atme langsam ein und auch langsam wieder aus und richte Deine Aufmerksamkeit auf Gegenstände in Deiner Umgebung.
  6. Praktiziere Yoga oder andere Entspannungsverfahren.
  7. Höre Musik, die Dir gut tut
  8. Durch körperliche Anwendungen wie Sauna, Massage, Osteopathie, Shiatsu, Thaimassage und und und…
  9. …finde die Dinge, die Dich in die Leichtigkeit des Lebensflusses zurückfinden… es gibt unzählige Möglichkeiten und ich bin mir sicher, Du kennst einige, die für Dich wirksam sind.

Du möchtest mehr über den Umgang mit Traumabetroffenen lernen und dadurch sicherer in deinem Job werden? Dann starte jetzt gleich in den von mir erstellten Online-Kurs:

„Grundlagen zu Trauma und Traumafolgestörungen“

 

 

 

 

 

 

 

Quellen:

https://en.wikipedia.org/wiki/Daniel_J._Siegel

https://www.gov.je/SiteCollectionDocuments/Education/ID%20The%20Window%20of%20Tolerance%2020%2006%2016.pdf

Weiterführende Infos:

Auf dem Youtube-Kanal „leben.lernen“ gibt es eine schöne, unaufgeregte Erklärung zum Window of Tolerance.

 

3 Kommentare

  • Sehr schöner Beitrag.
    Was ich allerdings finde was etwas vermittelt wird: Sei achtsam, tue Dinge die dir gut tun, schlafe genug etc, vermeide Trigger…

    Das sind alles Dinge, die ja nicht Trauma integrieren. Gerade bei einer generalisierten Angststörung ist das vermeide Trigger schwer…die Angststörung weitet sich immer mehr aus und man muss sich teilweise auseinandersetzen.

    das von dir genannte sind ja eigentlich auch alles Überlebensstrategien, man will ja gerne ohne diese durchs Leben gehen.

    Wie findet da denn die Integration statt.

    Ich bin zB permanent drüber und habe eine GAS. Da ist dann Therapie unmöglich, wenn man nur im Fenster lernen kann?!

    Antworten
    • Hallo Lisa,

      vielen Dank für Deine Gedanken. Das Stresstoleranzfenster beansprucht in sich erst einmal nicht, Trauma zu integrieren. Das wäre schön, wenn das so einfach wäre. Und ich gebe Dir auch recht – dass es schwer ist – und auch nicht immer die letzte Lösung, Trigger zu vermeiden, wenn sie sich wie zum Beispiel bei generalisierten Angsstörungen tentakelartig verzweigen. Da ist eine Differenzierung und Auseinandersetzung auf alle Fälle wichtig.

      Therapie ist immer möglich, auch und gerade wenn man permanent „drüber“ ist. Ein Therapeut entwickelt mit Dir das Maß, was zum Weiterlernen und Verarbeiten dienlich ist. Genaueres muss man tatsächlich im Einzelsetting anschauen.
      Alles Gute Dir!
      SH

      Antworten
  • Liebe SH,

    Lieben Dank für deine Rückmeldung.
    Kannst du ggf. – als Traumatherapeutin, bzw. Traumakennende, sagen wie denn die Integration/Verarbeitung stattfindet?

    Ist ja schonmal schön zu hören, dass Therapie dann auch hilft. Nur wie wenn das Gehirn überlastet ist und oben drüber nichts passieren kann.

    Puh…

    Würde mich sehr über einen Berichz freuen, wie Integration dann stattfindet.

    Liebe Grüße

    Lisa

    Antworten

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert