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Mikrotrauma – und wie es die Psyche betreffen kann

Mikrotrauma

In diesem Beitrag möchte ich der Frage nachgehen, was konkret ein Mikrotrauma ist und in welchem Kontext es Sinn ergibt, diesen Begriff einzusetzen. Wortschöpfungen, vor allem häufig genutzte, bergen immer die Gefahr, inhaltliche Inflationen einzuleiten oder möglicherweise auch ungerechtfertigte Bewertungen vorzunehmen. Mit diesem Blog, dieser Webseite setze ich mich für Wissensvermittlung sowie die Anerkennung und Regulation von Psychotraumata ein.

Ich werde also vor allem der Frage nachgehen, wie sich Miktrotraumata im psychologischen Kontext zeigen können. Im ersten Momen denke ich – Mikrotrauma? Das ist doch ein Wort, was sich selbst entwertet? Wie kann ein Trauma „klein“ sein. In meiner Aufassung ist es entweder Trauma – oder eben nicht. So ein „bisschen“ Trauma finde ich befremdlich und auch schwammig – aber schauen wir jezt mal genauer hin.

Was ist ein Mikrotrauma?

Der Begriff Mikrotrauma ist ursprünglich eher in der Sportmedizin beheimatet. Hier geht es um kleinere, eher geringfügige strukturelle Verletzungen, wie zum Beispiel Muskelfaserisse. Klein deshalb, da der Körper ausreichend Selbstheilungskräfte besitzt, um diese Art von Einzelverletzungen recht zügig und ohne Spätfolgen auszuheilen.

nders sieht es schon aus, wenn Mikrotraumen wiederholt an der gleichen Stelle auftreten – denn dann kann es zum Umbau von Gewebe, zu dauerhaften Gewebsveränderungen kommen. Diese wiederum wirken sich dann im ungünstigens Fall einschränkend auf die Funktion aus.

Und um mal ein Beispiel zu nennen: Nehmen wir einen Tennisspieler. Das Laufen auf dem Court erfordert schnelles Starten und Stoppen sowie schnelle Richtungswechsel. Rutscht er dabei aus, kommt es vielleicht zu einem kleinen Stoß, einer Prellung des Knies. Einmal nicht der Rede wert – kommt es jedoch häufiger dazu, beginnt sich möglicherweise das Bindegewebe am Knie zu verfestigen. Struktur folgt der Funktion, das kennt jeder von der Verhornung der Fußsohle.

Am Knie wird es straffer um eventuell weiterer Belastung besser standhalten zu können. Das straffe Gewebe engt zunehmend das Knie ein. Im Laufe der nächsten Jahre entwickelt sich daraus möglicherweise eine Arthrose. Also ein Gelenkverschleiß, der teils mit starken Schmerzen einhergehen kann.

Und was ist ein Mikrotrauma im Kontext der Psychologie?

Zunächst ein Bild.

Stell Dir vor, Du gehst wandern und siehst einen Teil des Waldes abgestorben. Zunächst denkst Du Dir, das war der Sturm oder vielleicht ein Waldbrand. Aber nein – der winzigkleine Borkenkäfer ist für das Waldsterben verantwortlich. Kleine Gänge und immer wieder nistet er sich ein und unterbricht durch sein Dasein Versorgungsleitungen des Baumes. Ein Borkenkäfer lässt den Baum sicherlich nicht sterben. Taucht er immer und immer wieder auf, steigt die Zerstörung und möglicherweise stirbt der Baum ab. Spannend ist, dass es Bäume gibt – die dem Schädling trotzen.

In der Psychotraumatologie bezeichnet dieser Begriff in erster Linie wiederholte Traumatisierungen im Sinne von subtiler Gewalt oder emotionaler Vernachlässigung in der Kindheit. Scheinbar unbemerkt aber stetig aufeinander aufbauend, kommt es zunächst zu einer Beeinflussung oder einer Irritation und damit nach wiederholter Anwendung schlussendlich zur Beeinträchtigung des Selbstwertes.

Die Positive Psychologie versteht unter einem Mikrotrauma eine einseitige, sich ständig wiederholende Lernerfahrung oder Prägung. Also Dinge, die uns kränken, ärgern, Schuldgefühle oder Aggressionen in uns auslösen. (Quelle: S49 / Die Launologische Revolution von Dr. Helmut Fuchs)

Bei einem Trauma ganz allgemein gehen wir von einer körperlichen oder seelischen Verletzung aus. Wann immer wir von Trauma sprechen, reden wir auch von Überforderung und Grenzverletzung. Beim Mikrotrauma geschehen diese Grenzverletzungen so subtil, dass sie oft zunächst nicht bemerkt oder abgetan werden.

Die posttraumatischen Phänome sind jedoch gleich.

Die amerikanische Psychotherapeutin Margaret Crastnopol beschreibt in ihrem Buch: „Microtrauma – A Psychoanalytic Understanding of Cumulative Psychic Injury“ sieben unterschiedliche und vor allem unsichtbare Möglichkeiten von Mikrotraumata oder vielmehr deren Ursache.

In einem Beispiel ist eine Großmutter begeistert, wie gut der Enkel in einer Jacke ausschaut und betont, wie viel besser er ausschaut, als sein Vater. Diesem gegenüber entwickelt der Junge nun Schuldgefühle. Und wie sehr er seiner Großmutter vertrauen kann, weiß er auch nicht so genau. Denn womöglich spricht sie in seiner Abwesenheit ebenfalls abwertend über ihn. Und natürlich beeinflusst dies, das weitere Zusammenleben.

Kommen solche Mikrotraumatisierungen wirklich nur in der Kindheit vor?

Ganz klar: Nein.

Solche Mikrotraumatisierungen können in jedem Alter und in jedem Kontext entstehen. Es geht um Demütigung, Abwertung, zur Schaustellung. Sei es im Dienst, im Studium, in Jugend- oder auch Sportgruppen. Nur heißen sie dann vielleicht anders. Dann nennen wir es zum Beispiel:

1. Mobbing, Bossing oder Staffing – welche hier als ausgewachsenes Wort mächtig klingen aber zunächst oft mit einem ungelösten Konflikt startet. Das kann vieles sein. Beim Mobbing gibt es Anfeindungen auf gleicher Ebene. Beim Bossing geht die Gewalt vom Chef aus und beim Staffing erfolgen die Anfeindungen gegen den Chef.

Mal ein Beispiel, um die Banaliät des Beginns zu verdeutlichen: Viellelicht möchte Deine Kollegin das Fenster lieber häufiger öffnen, während Du eine kleine Frostbeule bist und eher selten lüftest. Möglicherweise geht es auch um wichtige dienstliche Inhalte. Und plötzlich geht die Schikane unter den Kollegen los. Es kommt zu Schuldzuweisungen, Ausgrenzungen, vielleicht Manipulationen von Arbeitsergebnissen.

Nicht sofort – aber im Laufe von Monaten nimmt das Selbstwertgefühl von Betroffenen ab, ohnmächtig erliegen sie den Dingen. Ein Opfer ist geboren.

2. Oder nennen wir es Gaslightning. Ein Begriff, der immer häufiger auftaucht. Der gezielte Verunsicherungsversuch einer Person gegenüber einer anderen Person, welcher ganz gemäß dem Mikrotrauma schleichend und subtil beginnt und schlußendlich zur völligen Erschütterung des Selbstwertes einer Person führen kann. Als Techniken werden hier Lügen, Wortverdrehungen, Manipulationen oder Unterstellungen eingesetzt.

3. Auch Beziehungs- und Datingphänomene wie Benching, Ghosting, Breadcrumping, Mosting und Stashing lassen sich in den Kontext der Mikrotraumatisierungen einordnen.

  • Benching bedeutet, als frisch Verliebter in die Warteschleife gesetzt zu werden.
  • Ghosting ist eine plötzliche Trennung, bei der ein Partner plötzlich wie vom Erdboden verschluckt ist. Und das gibt es sicherlich auch nicht nur in Paarbeziehungen. Das kennen viele Selbständige nämlich von ihren säumigen Kunden – die sind auch nie wieder zu erreichen.
  • Breadcrumbing, wie der Name schon sagt – füttert Dich mit kleinen Brotkrümeln, hält Dich am langen Arm um Dich als potentiellen Partner doch fallen zu lassen.
  • Stashing – passiert dann, wenn der eine Partner den anderen vor seinen Freunden und Familienmitglieder geheim hält.
  • Mosting – beginnt zunächst mit Überschüttung von Zuwendungsbekundungen. In dem Moment wo dies erwidert wird – verschwindet der Moster.

Zurückbleiben bei all diesen Phänomenen verunsicherte Betroffene, die keinerlei Erklärung für das Verhalten des Partners bekommen, die in ihrem Selbstwert und in ihrem Vertrauen gegenüber anderen Menschen erschüttert sind. Gerade die durch Menschen verursachten Phänomene sind am schwierigsten zu verarbeiten.

Das heißt, die für Außenstehende möglicherweise banal erscheinenden Vorkommnisse erzeugen in den Betroffenen teils schwerwiegende Symptome und damit oft gesundheitliche Beeinträchtigungen.

Immer wieder werden Stimmen laut, das Wort Trauma nicht zu sehr zu inflationieren. In dem Zuge ist mir ein Artikel in die Hände gefallen, der sich mit Alltag- oder wie tituliert mit Mikroaggressionen befasst. Möglicherweise findet sich hier eine Form der Abgrenzung.

Mikroaggression = Mikrotrauma?

Unlängst stieß ich auf einen Artikel von Spektrum.de https://www.spektrum.de/news/rassismus-sind-mikroaggressionen-real/1960354…in welchem subtile alltägliche Demütigungen und Herabsetzungen beschrieben stehen, welche bereits auf Arbeitserfahrungen des afroamerkikanischen Psychiaters Chester Pierce aus den 70iger Jahren zurückgeht.

Das Thema ist also alles andere als neu. Jedoch, Fachkreise schenken diesen willentlich oder unbewusst auftretenden Verbalattacken oder dem herabwürdigendem oder ausgrenzendem Verhalten erst seit 2007 Aufmerksamkeit. In erster Linie um Minderheiten.

Allein aus den Gesprächen mit meinen Patienten bin ich mir sehr sicher, dass es weit mehr Menschen betrifft, als die offiziell bezifferten Minderheiten. Kurzum – es kann jeden, jederzeit betreffen.

Entscheidend für das empfundene Leid scheint das persönliche Erleben zu sein. Während der Eine sich durch eine vielleicht aus reinem Interesse gestellte Frage getriggert fühlt, beantwortet der Nächste eine solche Frage ähnlich pragmatisch, wie eine Frage nach dem Wetter.

Mikroaggressionen können also genau wie Mikrotraumatisierungen Grenzüberschreitungen sein, ganz wichtig und auch das erklärt der Artikel sehr schön: Alltägliche Erfahrungen, wie zum Beispiel die persönliche Interpretation von mehrdeutigen Aussagen, dürfen nicht automatisch pathologisiert werden.

Und so entscheidet letztendlich die Reaktion beim Empfänger, ob man eher von Mikroaggressionen oder Mikrotraumatisierungen spricht.

Der Artikel verweist auf zwei Studien, die sich mit den Folgen von Migroaggressionen befassen und diese ähneln den posttraumatischen Symptomen sehr. Da spricht man zum Beispiel von der Erhöhung des Stresshormons Kortisol, von Angststörungen aber auch von Depressionen. Erkrankungen, welche fortschreitend zunehmen.

Warum weiß man so wenig darüber?

Gute Frage. Ich denke, dass wir im Allgemeinen schon sehr viel über die Mechanismen und damit die Auswirkungen der Mikroaggressionen und Mikrotraumatisierungen wissen. Die eigentlichen Fragen sollten wir uns als Menschen im Alltag immer und immer wieder stellen:

  • Respektiere ich andere Menschen wirklich vollumfänglich oder tue ich nur so?
  • Behandle ich meine Mitmenschen wirklich so, dass ich sie in ihrem Wert stärke, statt schwäche – oder tue ich nur so?
  • Bin ich mir in jedem Moment wo ich mit Menschen direkt und auch indirekt kommuniziere über die Auswirkungen bewusst?

In der Regel machen sich Menschen auf die Suche nach Lösungen, also nach Wissen – wenn sie ein Problem haben. Da im Bereich Mikroaggressionen und Mikrotraumatisierungen nicht die Täter das Problem haben, sind sie leider auch nicht um Lösungen bemüht.

Einsicht, Bewusstsein und Fähigkeit zu Wahrnehmung sind die Schlüssel, die diese täglich und subtil verlaufenden Miniübergriffe schrumpfen lassen könnten.

Viel effektiver jedoch ist es – wenn diese Übergriffigkeiten einfach im Nichts verpuffen, weil sie auf psychisch stabile, selbstbewusste und aufgeklärte Menschen treffen, die sich diesen Grenzüberschreitungen entgegenstellen können.

Wie kann ich mich vor einem Mikrotrauma schützen?

Mikroaggressionen und damit auch Mikrotraumatisierungen werden sich nie ganz vermeiden lassen.

Sich wirksam dagegen aufzustellen birgt zumindest Schutz vor schwächenden Folgeschäden oder gar Erkrankungen.

Was gibt es ganz genau zu tun?

  1. Zunächst gilt es kritisch zu hinterfragen, zu beobachten, wahrzunehmen – ob und von welcher Person ausgehend die Attacken erfolgen.
  2. Sich innerlich immer und immer wieder sagen: Es ist seine Aggression. Es ist sein Verhalten. Es ist sein Nervensystem, was gereizt agiert.
  3. Den eigenen Selbstwert stärken. Durch Achtsamkeitsübungen, durch gute Gespräche mit Befürwortern, durch gute Taten – es gibt viele Möglichkeiten.
  4. Klare Grenzen formulieren. In keinster Weise auf das schädigende Verhalten eingehen. Weder verbal noch emotional, sondern die Tatsache, dass sich jemand an Dir abarbeitet als reine Faktenlage erkennen. Das ist schwer, ich weiß. Aber notwendig.
  5. Keine Opferhaltung einnehmen. Aktiv bleiben. Über die eigene Physiolgie Stärke symbolisieren – stabil auf zwei Beinen stehen. Aufrecht stehen. Direkten Blickkontakt suchen. Klare Worte formulieren. Nicht fragen, nicht herumdrucksen…. und vor allem vorbereitet sein. Es wird sicherlich eine nächste und noch eine und eine weitere kleine Attacke geben. Die eigene Verblüffung und Empörung darüber im Zaume halten.
  6. Wenn es die Situation zulässt, die Person ansprechen und rational die Situation klarstellen. (Erinnere Dich immer wieder daran – kein Mensch ist auch nur ein Funken mehr wert, als ein anderer.)
  7. Die emotionale Bindung zu dieser Person lösen. (Du musst Deinen Chef nicht mögen. Du musst nicht mit Deiner Kollegin befreundet sein. Es ist auch nicht nötig, dass Deine Kollegin Dich mag – Ihr arbeitet lediglich zusammen. Nicht mehr und nicht weniger.)

 

 

 

 

Quellen:

https://bayern-gegen-gewalt.de/gewalt-infos-und-einblicke/formen-von-gewalt/psychische-gewalt/gaslighting/

https://www.spektrum.de/news/rassismus-sind-mikroaggressionen-real/1960354

https://ichi.pro/de/die-farbe-des-mikro-traumas-20539719305640

https://www.dgb.de/mobbing-am-arbeitsplatz-was-tun-bei-mobbing-durch-chef-oder-kollegen

https://www.gofeminin.de/liebe/breadcrumbing-ist-das-neue-gosthing-s2164678.html

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