Trauma-Informiert-Leben

Was ist Neurozeption?

Neurozeption - das Bild zeigt ein Nervengeflecht

Die Polyvagaltheorie hält im großen Tempo Einzug in die Therapie- und auch Coachingszene. Und im Zuge der Polyvagaltheorie taucht immer wieder der Begriff Neurozeption auf. Forschungen in diesem Bereich schreiten voran und so weiß man mittlerweile, dass die gefühlte Sicherheit für uns und unser Nervensystem elementar wichtig ist. In diesem Beitrag gehe ich der Frage nach: Was ist Neurozeption? Und was verbindet die Polyvagaltheorie mit diesem Begriff? Und wie können wir die Neurozeption privat oder auch in therapeutischen Settings fördern? Schauen wir uns das mal im Detail an:

Definition Neurozeption

Kurz gesagt: Neurozeption bedeutet unbewusstes Wahrnehmen. Der Begriff wurde vom amerikanischen Wissenschaftler und Professor für Psychiatrie Stephen W. Porges geprägt.

Neurozeption ist ein Vorgang, bei dem unser Nervensystem sämtliche Informationen aus der Umgebung aber auch aus dem Körperinneren, aufnimmt, sie verarbeitet und in primitiven Hirnarealen anhand dieser Daten eine Einschätzung vornimmt, ob die Umgebung sicher ist, bedrohlich oder lebensgefährlich.

Sich in Sicherheit zu wissen, ist das größte Anliegen unseres unbewussten Nervensystems.

Denn Sicherheit sichert das Überleben.

Doch nicht nur das.

Neurozeption bedeutet auch, dass unser Gehirn blitzschnell ein Reaktions- oder Verhaltensmuster aktiviert, welches an die Situation angemessen ist. Lange unterschied man lediglich 2 Anteile im unbewussten Nervensystem. Den Antreiber Sympathikus und den Regenerierer – den Parasympathikus mit einem seiner größten Nerven: der Vagusnerv. Stephen Porges hat in seiner Forschung jedoch darlegen können, dass es mindestens noch einen weiteren Anteil im autonomen Nervensystem gibt.

Mittlerweile sprechen wir also vom Antreiber Sympthikus, vom Regenerierer Vagus – und hier wiederum vom System des ventralen Vagus (soziales Engagement-System) und vom System des dorsalen Vagus (das Shut-Down-System). Diese drei Anteile treffen so ziemlich genau den Kern der Polyvagltheorie.

Was ist eigentlich die Polyvagaltheorie

Wie es das Wort schon so schön schreibt: Die Polyvagaltheorie ist eine Theorie. Ein Denkmodell, welches auf den Forschungen vom bereits oben genannten amerikanischen Wissenschaftler und Professor für Psychiatrie Stephen W. Porges beruht.

In den Ausführungen rund um die Polyvagaltheorie geht es um die Anatomie des unbewussten also autonomen Nervensystems genauso wie um seine Eigenschaften und Funktionsweise. Die ist, wie der Name so schön sagt: autonom.

Das autonome Nervensystem hat vor allem ein Anliegen. Alles dreht und wendet sich um die gefühlte und die echte Sicherheit. Dies geschieht ohne unser willentliches Eingreifen und dies geschieht permanent. Also völlig unabhängig, ob wir gerade auf Arbeit sind oder schlafen – unser autonomes Nervensystem nimmt stete Bewertungen der Umgebung vor.

Hierzu stehen dem autonomen Nervensystem 3 in Hierarchie funktionierende Modi zur Verfügung. Ich bin mir sicher, du kennst alle drei dieser Modi. Unser Gehirn wechselt im Laufe des Tages vielfach zwischen diesen Modi hin und her. Das ist ganz normal.

Nicht normal ist, in einem dieser Modi steckenzubleiben. Wenn dies passiert, sprechen wir von einer Traumafolgereaktion oder Traumafolgestörung.

Die drei autonomen Modi der Polyvagaltheorie

Ich möchte nun ein wenig genauer auf die drei autonomen Modi des polyvaglen Systems eingehen. Im regulierten Zustand, also in dem Bereich, den wir auch „Window of Tolerance“  bezeichnen ist das System des ventralen Vagus aktiv. Wir sind gut gestimmt, in der Lage in Kontakt mit anderen Menschen zu gehen und auch Verhandlungen zu führen. Wir können uns gewissen Herausforderen des Lebens gut stellen und bleiben in der Balance. Dieser Teil ist entwicklungsgeschichtlich der jüngste Teil der Hierarchie.

Sobald unser autonomes Nervensystem auch nur die leiseste Bedrohung wahrnimmt, schaltet es in der Hierarchie der autonomen Muster auf ein System, das schon ein wenig älter ist. Das Kampfsystem – das System des Sympathikus, welches zunächst alle Kräfte und Energiereserven mobilisiert, um sich dem Kampf zu stellen. Im Alltag könnte das eine hitzige Diskussion sein.

Allein sich den Unterschied zwischen einem harmonischen Gespräch und einer hitzigen Diskussion vorzustellen, verdeutlicht – das die autonomen Reaktionen das ganze Körpersystem betreffen.

Erscheint jedoch der Kampf aussichtlos, so ergreifen wir die Flucht. Auch das ist ein Muster, welches man dem sympathischen System zuordnet.

Wird die echte oder gefühlte Bedrohung unaushaltbar oder fühlt sich existentiell bedrohlich an, so schaltet die Hierarchie auf den ältesten Teil. Dieser Teil ist als absolutes Energiesparsystem ausgelegt. Das System des dorsalen Vagus versetzt uns in Schockstarre. Manchmal wird auch der Begriff Totstellreflex noch verwendet.

Polyvagaltheorie Übersicht - 3 Kreise sind beschriftet mit Sicherheit ventraler Vagus, Kampf und Flucht Sympathikus und Erstarrung dorsaler Vagus
Die Polyvagaltheorie im kurzen Überblick

Was ist Neurozeption in diesem Kontext?

Kommen wir nochmal zurück zum Begriff Neurozeption. Die erste Silbe „Neuro“ steht für: Nervensystem. Die zweite Silbe „zeption“ stammt vom lateinischen Verb „recipere“, was soviel wie „aufnehmen“ bedeutet.

Neurozeption ist also zunächst alles, was vom Nervensystem als Information aufgenommen wird. Sinnesreize wie akustische, optische oder Geruchsinformationen. Geschmack- und Geruch zählen wir ebenso dazu wie Informationen aus dem taktilkinästhetischen System. Das ist das System rund um Berührung, Druck, Temperatur und auch Schmerzempfinden.

Doch die Aufnahme eines Reizes macht noch keine Neurozeption – diese beinhaltet nämlich gleichzeitig das automatische Anwählen eines der oben beschriebenen Überlebensmuster. Dieses wird ausgewählt nach der jeweiligen Situation. Wenn also alles sicher ist, greift das Soziales Engagement oder ventraler Vagussystem. Wenn es etwas gefährlich scheint, gibt es einen Kampf oder Flucht und wenn die Situation absolut lebensbedrohlich erscheint, dann geht das System in die Erstarrung.

Die Bedeutung der Neurozeption in der Therapie

Das Wissen um die Polyvagaltheorie und damit um die Neurozeption empfinde ich als revolutionär. Sind wir mal ehrlich – die meisten Hilfsangebote sind Gesprächs- also vorwiegend kopfgesteuerte Angebote. Ganz egal ob wir hierbei an klassische Psychotherapie oder auch an klassisches Coaching denken.

Diese Gesprächsangebote drehen sich in der Regel um ein Problem, der Klient schildert sein Problem und es wird von A bis Z durchgwalzt. Wenn es richtig gut läuft, gibt es eine kognitive Lösung. Das heißt, der Klient hat eine Lösung im Kopf, in der Ration. Was aber nun leider nicht unbedingt bedeutet, dass sein autonomes Nervensystem davon überzeugt ist.

Nehmen wir zum Beispiel an, eine Frau sucht die Psychotherapie auf, weil sie eine unspezifische Angst verspürt. Jetzt wird in der Therapie über die Angst geredet und es werden Lösungen erdacht, wie man mit dem Phänomen Angst umgehen könnte. Vielleicht gibt es eine Reihe von Verhaltenstipps. Rein theoretisch ist diese Klientin nach ein paar Monaten Expertin zum Thema Angst. Leider hat sich an dem Gefühl überhaupt nichts geändert, denn die Rechnung wurde ohne das autonome Nervensystem gemacht.

Bezieht man nun das Wissen der Polyvagaltheorie mit ein, so ist sofort klar – in diesem Nervensystem gibt es Angst. Das heißt die Erregung ist häufig oder vielleicht auch dauerhaft ziemlich hoch. Das autonome Nervensystem wittert Gefahr. Der Klientin ist nicht so richtig klar, vor was sie Angst hat. Das zeigt umso mehr, wie unwillkürlich dieses System arbeitet.

Was ist Neurozeption in diesem Fall?

Das System wittert permanent Gefahr. Wir haben es hier eher mit einem Sympathikus zu tun. Das heißt, dieses Nervensystem der Frau bewegt sich im Kampf und Fluchtmodus.

Was ist im Sinne der Polyvagaltheorie zu tun?

Das erste was dieses Nervensystem braucht, ist die Erfahrung, dass es in Sicherheit ist. Damit es sich regulieren kann. Diese Regulation erfolgt nur dann, wenn es spürt – das Gegenüber ist ehrlich, ungefährlich, nett – ein ventraler Vagus halt.

Vorher braucht nicht ein einziger Lösungsansatz gesucht zu werden. Denn die Lösung liegt zunächst in der Erfahrung.

Geht man stattdessen nun in diesen Therapien ausschließlich auf das Phänomen Angst ein – wird die Klientin die ganze Zeit auf einem gewissen Erregungsniveau bleiben. Dem noch nicht genug – sie wird alles Lösungen aus diesem Überlebensmuster Kampf & Flucht generieren.

Nicht weil sie das so möchte – sondern weil allein durch das Therapiegespräch im autonomen Nervensystem sämtliche Alarmglocken schrillen. Jetzt geht es ja wieder um diese Angst. Vorsicht – denn schon allein im Gespräch kommen ungewollt und auch ungeplant und übrigens in rasender Geschwindigkeit Bilder, Erinnerungen, Gedanken die das Gefühl Angst aufrecht erhalten. Die das Nervensystem in hoher Erregung halten.

Hier eine Lösung zu erhoffen ist ungefähr das Gleiche, wie im Schwimmbad im Kreis zu schwimmen und zu hoffen, dass man an den Rand findet.

Wie lässt sich die Neurozeption positiv beeinflussen?

Um einem Nervensystem möglichst viel Sicherheit zu vermitteln, ist es äußerst hilfreich Aktivitäten zu wählen, welche genau dies als Folge haben.

In der Therapie ist das zunächst einmal ein ruhiges, behagliches und vor allem sicheres Setting. Eine Praxis in der permanent Geräusche vom Nachbarn zu hören sind oder die Türen der Kollegen im Flur klappern, wird vom Nervensystem selten als ganz sicher eingestuft. Die Orientierung vom Klienten wird mindestens zum Teil im Da & Dort anstatt im Hier & Jetzt sein. Ein ruhiges Behandlungszimmer ist eine gute Voraussetzung für eine gelungene Therapie.

In meiner Praxis handhabe ich das so, dass die Außentür von mir geöffnet werden muss. Das heißt – wer die Praxis betreten möchte, muss klingeln. So erspare ich meinen Klienten wilde Postboten, die ungefragt reinstürzen oder ähnlich gelagerte Fälle.

Sicherheit wird aber auch durch augenscheinliche Kleinigkeiten vermittelt. Manch ein Klient mag die Rollos eher geöffnet um nach draußen zu schauen. Der nächste möchte sie unbedingt geschlossen haben, um sich behaglich zu fühlen.

Es gibt nicht das eine Setting, was besonders sicher ist – sondern es gibt nur die Haltung, gern für Sicherheit zu sorgen und alles was im Rahmen der Möglichkeiten ist – eben zu ermöglichen.

Doch ist allein Sicherheit die Lösung?

Ganz sicher nicht. Ein gesundes Nervensystem lernt im gesunden Maße zwischen Anspannung und Entspannung hin- und herzupendeln. Das ist übrigens Teil der Therapie, welche ich anbiete. Ich arbeite nach der Methode Somatic Experiencing. Was das genau ist, habe ich im markierten Beitrag genauer beschrieben.

Nervensysteme, die in einem der drei Modi steckengeblieben sind, brauchen also ein ganz spezielles Training um aus der Einseitigkeit der Reaktion wieder ein fluides, harmonisch reagierendes Nervensystem werden zu lassen. Jedes Nervensystem kann gesundes Schwingen wieder lernen.

Und irgendwie klingt gesundes Schwingen ein bisschen blumig – letztendlich geht es darum, die vor allem im Fall von Trauma aufkommende Überbewertung von Reizen (Hyperarousal) zurückzuführen zu einer normalen oder physiologischen Reaktion.

Im Fall von Trauma führt die Neurozeption häufig zu einer Fehleinschätzung der eigentlichen Situation. Ein kleiner Knall fühlt sich wie ein Kanonenschlag an. Eine Warnsirene könnte ein nie selbst erlebtes Kriegserleben vortäuschen und der süße Vierbeiner wird auf einmal zur Bedrohung des Lebens.

Training der Regulationsfähigkeit

Je häufiger ein Nervensystem die Gelegenheit zum Training bekommt, desto mehr wird es sich in Richtung Physiologie bewegen. Maßnahmen wie Entspannungstrainings wie Yoga, Taiji oder Feldenkrais helfen, die Momente des ventralen Vagus auszudehnen und als nicht bedrohlich wahrzunehmen.

Aufenthalte in der Natur und hier vor allem am Meer oder im Wald haben eine nachgewiesen regulierende Wirkung auf das Nervensystem.

Regelmäßiger Kontakt zu Menschen, die sich im ventralen Vagus bewegen, hilft über das Prinzip der Resonanz den eigenen ventralen Vagus zu fördern.

Das Motto lautet hierbei: Ein Nervensystem steckt das andere an!

Eine leichte Übung zur Verbesserung der Neurozeption

Damit unser Nervensystem möglichst in Ruhe seiner Arbeit nachgehen kann, ist es nur von Vorteil, wenn wir häufiger Übungen in unseren Alltag einbauen, die die von außen und von innen drängenden Reize minimieren.

Hierfür mag ich die Übung „Haltung des Kindes“ oder englisch „Child Pose“. Alternativ habe ich diese Übung in der Rückenschule früher auch einfach „Päckchenposition“ genannt.

Übungsablauf:

Nimm dir eine Yogamatte oder eine weiche Decke. Alternativ kannst du diese Übung auch gelenkschonend auf der Couch oder im Bett machen.

Setz dich nun mit deinem Gesäß weit nach hinten auf die Fersen und lege deinen Oberkörper bequem auf deinen Oberschenkeln ab. Wenn das ungemütlich ist, so lege dir einfach eine gerollte Decke oder ein dickes Kissen unter den Bauch.

Die Hände legst du bequem unter den Kopf und die Stirn legst du bequem auf den Händen ab.

Verweile in dieser Haltung etwa 2-5 Minuten. Lasse dich mit jedem Atemzug etwas tiefer in die Haltung hineinsinken. Lasse soviel wie möglich Stress und alle überflüssigen Gedanken von dir abfallen. Spüre, wie so Stück für Stück alle Aufregung, alle Anspannung in den Hintergrund rückt. Spüre, wie sich dein System entspannt und bemerke die Dinge, die sich dadurch einstellen. Vielleicht ensteht ein Lächeln, vielleicht grummelt wohlig dein Eingeweidesystem, vielleicht tränen auch die Augen. Alles gute Zeichen, dass das Vagussystem seine Arbeit aufgenommen hat.

Was ist Neurozeption? An dieser Übung kannst du es richtiggehend spüren – wie sich Sicherheitsgefühl einstellt und wie dadurch angenehme Gefühle und später vielleicht Kreativität im System wieder aufkommen.

Sandra befindet sich in der Child Pose / Haltung des Kindes / Yogapose zur Entspannung
Haltung des Kindes

 

In diesem Sinne wünsche ich dir nun spannende Erkundungen im Kontext der Polyvagaltheorie. Was ist Neurozeption für dich? Schreib es mir gern rein in die Kommentare.

Und wenn du mehr von mir lesen möchtest oder noch viel mehr Übungen suchst, so kann ich dir mein Buch:

„Der Vagusnerv – unserer innerer Therapeut“ sehr empfehlen. Hier gleich bei Amazon bestellen (*):

Der Vagus-Nerv – unser innerer Therapeut von Sandra Hintringer

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert